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Famulaturbericht Educandario Magalhaes Bastos in Varzea/Recife
von ZHB
von Andrea Sobota
„Der Zeitbegriff erhält in einem der „langsamsten“ Länder der Welt eine andere Definition,
denn es ist nur der Augenblick, der zählt.
So kann in Brasilien alles passieren oder aber auch nichts.“
Carl D. Goerdeler
„Plant eineinhalb Jahre Vorbereitungszeit ein!“, dieser Satz spukte allgegenwärtig in meinem Kopf herum, während ich mit einer Studienfreundin unsere Famulaturvorbereitungen traf. Nicht, dass ich nicht schon viele Semester den Traum vom Reisen durch (möglichst) ferne Länder hatte, in denen ich „über den Tellerrand“ blicken und außerdem meine erlernten zahnärztlichen Fähigkeiten in den „Dienst der guten Sache“ stellen wollte – aber konkret wurden die Pläne erst während der Endphase des Examens, sodass die Vorbereitungszeit reichlich kurz war, nämlich gerade einmal zwei Monate. Über ein Plakat in der Zahnklinik unserer Universität LMU München erfuhr ich vom „Zahnärztlichen Hilfsprojekt Brasilien e.V.“, das junge Zahnärztinnen und Zahnärzte nach dem Staatsexamen mit frisch erworbener Approbation sucht.
Ruben Beyer schickte uns in das „Educandario Magalhaes Bastos“ in Varzea/Recife, einem Kloster mit sechs Nonnen, dem eine (öffentliche) Schule für ca. 150 Mädchen und Jungen im Alter zwischen sechs und vierzehn angegliedert ist. Direkt im Kloster sollten wir eine kleine Wohnung beziehen, bestehend aus Schlafzimmer (mit vier Einzelbetten), Wohnzimmer und Bad für uns alleine – und auch unsere zahnärztliche Praxis befand sich auf dem Klostergelände.
Erst einmal angekommen im Kloster wurde uns schlagartig bewusst, was der wichtigste Teil unserer Vorbereitungen war: der zweiwöchige Intensivkurs brasilianisches Portugiesisch! Wirklich niemand in unserer neuen Umgebung sprach auch nur ein Wort einer anderen Sprache! Es war unvorstellbar und sollte uns auch bei unserer anschließenden Reise quer durch Basilien immer wieder begegnen. Deshalb hier der Rat: versucht im Vorfeld so viel Portugiesisch wie möglich zu lernen, unsere zwei Wochen waren grenzwertig wenig!
In der brasilianischen Millionenstadt Recife, die als Hauptstadt des Bundesstaates Pernambuco im Nordosten des Landes zum „Armenhaus Brasiliens“ gehört, kooperiert der Verein mit der gemeinnützigen brasilianischen Stiftung „Santa Casa de Misericórdia“ und anderen Organisationen wie Klöstern, die Schulen für die bitterarmen Kinder der Favelas unterhalten. Fernab der Armut und Gewalt in ihren Familien bedeuten sie für die Kinder einen Zufluchtsort mit geregeltem Tagesablauf, Schulmaterial und drei (warmen) Mahlzeiten.
Aufgebaut seit über zwanzig Jahren von deutschen Zahnärzten um den Vorsitzenden und Gründer ZA Ruben Beyer, über den auch die gesamte Koordination von uns Freiwilligen läuft, gibt es inzwischen neun kleine zahnärztliche Stationen in der Umgebung Recifes. Welcher Station genau man zugeteilt wird, hängt (neben eigener Vorlieben, wie eher ländliche oder städtische Umgebung) vor allem vom dortigen Bedarf ab.
Beim ersten Betreten der kleinen Ein-Zimmer-Praxis waren wir begeistert – die Behandlungseinheit war zwar einfach, aber rundum funktionstüchtig, inklusive Absaugung und höhenverstellbarem Stuhl! Auch Instrumente waren reichlich vorhanden, was nicht zuletzt an den teilweise wirklich großzügigen Spenden der deutschen Dentalfirmen lag. Solche Spenden zu erbitten umfasste auch einen großen Teil unserer Reisevorbereitungen – plant dafür mindestens fünf Wochen Zeit zwischen Erstkontakt zu den Firmen und definitivem Eintreffen der Ware ein! In Magalhaes Bastos wurden vor allem Verbrauchsmaterialien wie Medikamente, Zahnbürsten und Zahnpasta benötigt, sowie (vor allem ja zum Eigenschutz) Handschuhe und Mundschutz.
Die gesammelten Spenden konnten wir relativ problemlos im Flugzeug als zweites aufgegebenes Gepäckstück transportieren – einige Fluggesellschaften wie die TAP Portugal (die im Übrigen sogar Direktflüge von Europa nach Recife anbietet) gewähren dies kostenlos. Für das Flugticket belaufen sich die Kosten auf circa 800€ und sind selbst zu tragen. Der Verein kann generell keine finanzielle Entlohnung gewähren, vor Ort in Brasilien aber sind Kost und Logis frei, was – jedenfalls nach unseren Erfahrungen mit anderen potentiellen Famulaturangeboten weltweit - keine Selbstverständlichkeit ist!
Außerdem ist das „zahnärztliche Hilfsprojekt Brasilien e.V.“ eine anerkannte Famulaturstelle des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), sodass realistische Erfolgschancen bestehen, wenn man sich über den Zahnmedizinischen Austauschdienst (ZAD) um ein Stipendium im Sinne eines Reisekostenzuschusses bewirbt. Der Bewerbungsaufwand (Motivationsschreiben, Empfehlung durch die Universität, Bestätigung des Praktikumgebers etc.) hierfür lohnt sich - für Brasilien gibt es im Moment 600€ pro Stipendiat!
Vor dem Behandeln hatten wir sehr großen Respekt - es bedeutete so viele „erste Male“! Nicht nur dass unsere Patienten ausschließlich Kinder waren, mit deren Behandlung wir bisher ja kaum konfrontiert wurden, das Konzept des „zahnärztlichen Hilfsprojekts“ hieß vor allem für uns, zum ersten Mal abseits der Universität in kompletter Eigenverantwortung zu behandeln! Deshalb stellt auch die erworbene Approbation eine Teilnahmevoraussetzung an diesem Projekt dar. Mit der portugiesischen Übersetzung unserer Urkunden meldete uns der Vereinsvorsitzende bei der brasilianischen Zahnärztekammer an, damit wir eine Arbeitserlaubnis in Brasilien erhielten. Weiter Formalitäten wie die Beantragung eines Visums blieben uns aber erspart, da wir kein Geld verdienten und somit als deutsche Staatsbürger (Touristen) bei der Einreise nach Brasilien eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Monate erhielten.
Nachdem bereits vor unserer Ankunft in Recife durch den zuständigen Techniker die gesamte zahnärztliche Behandlungseinheit gewartet und repariert wurde, konnten wir zügig loslegen. Mit meiner Studienfreundin als Zweierteam geschickt, war das gegenseitige Assistieren immerhin gewährleistet. Zwei Wochen lang befundeten wir während unserer Behandlungszeiten von 8.00 bis 12.00 Uhr und 14.00 bis 16.00 Uhr unsere kleinen Patienten, um uns erst einmal einen Überblick über die wartende Arbeit zu verschaffen.
Interessanterweise besaßen vor allem die jüngeren Kinder schlechtere Zähne, während wir bei den Älteren hin und wieder sogar komplett kariesfreie Gebisse vorfinden konnten! Bis zum Ende unseres Aufenthalts waren wir mit dieses Rätsels Lösung unsicher: lag es daran, dass die gute Arbeit in Prophylaxe und Aufklärung unserer Vorgänger wirklich so gut fruchtete? Oder waren die bleibenden Zähne für ausgeprägten Kariesbefall einfach noch nicht lange genug durchgebrochen? Auf jeden Fall erfreute uns natürlich jedes kariesfreie Gebiss!
Trotzdem war es gut, dass wir fast sieben Wochen für die Famulatur angesetzt hatten, wir konnten so wirklich fast alle Kinder behandeln! Neben dem Befunderheben reinigten und fluoridierten wir die Zähne in der ersten Sitzung und trainierten mit jedem Kind individuell das Zähneputzen. Selbstverständlich gab es am Ende jeder Behandlung eine kleine Belohnung – wir ließen nichts unversucht, den Kindern die Angst vor dem Zahnarzt zu nehmen, beziehungsweise gar nicht erst aufkommen zu lassen!
Das Behandlungsspektrum umfasste in unserer „Eingewöhnungsphase“ vor allem Fissurenversiegelungen und Füllungen (mit Komposit, Glasionomerzement oder Amalgam), nach kurzer Zeit wagten wir uns aber auch an die oft doch nötigen Vitalamputationen und Extraktionen. Nur die seltenen Fälle, die eine endodontische Behandlung an bleibenden Zähnen erforderten, mussten wir leider mangels Ausrüstung (zum Beispiel war kein Röntgengerät vorhanden) abweisen und den Eltern nahelegen, mit ihrem Kind einen anderen Zahnarzt im Stadtzentrum aufzusuchen. Leider konnte sich kaum eine Familie unserer Schützlinge dies leisten, sodass diese Zähne meistens verloren waren.
Solche Vorkommnisse ließen uns hautnah erleben, was einem in diesem gewaltigen Land Brasilien (das übrigens fünftgrößte der Erde) überall begegnet: es herrscht eine extreme Kluft zwischen Arm und Reich! Während sich sehr viele Familien überhaupt keine Ärzte leisten können, bietet sich für Reiche in den Großstädten eine medizinische Versorgung auf annähernd europäischem Niveau! So ließen sich zum Beispiel auch die meisten zahnärztlichen Materialen, die wir für unsere Behandlungen brauchten, vor Ort besorgen – wir staunten nicht schlecht, als uns die brasilianische Stiftung „Santa Casa“ ein brandneues grünes Winkelstück und eine Turbine überreichte!
Eine öffentliche Schule wie das „Educandario Magalhaes Bastos“ besuchen auch fast ausschließlich Kinder armer Familien, da die meisten wohlhabenden Eltern in Brasilien bestrebt sind, ihren Kindern eine Schulbildung an einer angeseheneren Privatschule zu ermöglichen. Der soziale Aufstieg aus der Armut wird dadurch zusätzlich erschwert!
In den Großstädten prallen die beiden extremen Welten in teilweise erschreckender Deutlichkeit aufeinander. Liegt man abends im Pool auf der Dachterrasse eines Hotels in Rio de Janeiro, erstreckt sich zur einen Seite der weltberühmte Strand der Copacabana mit seiner Prachtstraße Avenida Atlântica - einmal umgedreht, ziehen die fahlen Lichter einer Favela den nahegelegenen Felsen empor.
Das Reisen in brasilianischen Städten macht all dies nicht ungefährlich. Vor allem vor Diebstählen und Raubüberfällen waren wir gewarnt, ebenfalls kannten wir (dank besorgter Familienmitglieder) die Statistiken über die jährlichen Mordraten der einzelnen Städte. Schrieb doch das Hamburger Abendblatt in einem Bericht über Recife im Jahr 2008: „In Coque, dem Slum von Recife, wo Franklino de Lima starb, töten Kinder nur, um einen guten Platz zum Überfall auf Autofahrer zu verteidigen.“ Doch keine Angst! Neben Recife besuchten wir auch São Paulo, Manaus, Salvador und natürlich Rio de Janeiro – und auch wenn Armut in jeder dieser Städte sichtbar war: wir wurden während der gesamten elf Wochen nicht einmal überfallen oder ausgeraubt! Natürlich gehört immer auch ein bisschen Glück dazu – aber geht mit wachem Auge durch die Straßen, nehmt abends ein Taxi und tragt keine Wertsachen, keine Uhren oder großen Taschen bei euch und genießt das ganz besondere Flair brasilianischer Städte!
Die vier Wochen Reisen quer durch ganz Brasilien im Anschluss an unsere Famulatur bedeuteten eine unglaubliche Erfahrung für uns, vieles wird uns erst jetzt nach unserer Rückkehr nach Deutschland langsam bewusst.
Besucht vor allem die unzähligen Naturwunder! Lasst euch verzaubern von der majestätischen Schönheit der Regenwälder entlang des Amazonas (von Manaus aus kann man mehrtägige Ausflüge buchen) und den gigantischen Wasserfällen des Rio Iguaçu. Besucht die (gerade einmal drei Autostunden von Rio de Janeiro entfernte) Ilha Grande mit ihren verwunschenen Wanderwegen durch dichten Küstenregenwald zu einem der schönsten Strände Brasiliens: Lopes Mendes. Genießt die nicht enden wollenden Sandstrände der Bundesstaaten Bahia und Pernambuco – denn dieses riesige Land ist noch so viel mehr als Favela und Fußball, mehr als Caipirinha und Karneval!
Nach elf Wochen in Brasilien kann ich dem berühmten florentinischen Seefahrer Amerigo Vespucci nur zupflichten, der im 15. Jahrhundert zum ersten Mal Brasiliens Küste erblickte und notierte: „Klare Wasser und unendlich viele Bäume, wunderschöne Vögel, die aus der Hand fressen, ein herrlicher Hafen: hier ist das Paradies.“
Ein herzliches Dankeschön für die großzügigen Sachspenden geht an folgende Unterstützer:
B. Braun Melsungen AG, Dentsply, DMG, Dr. Jean Bausch GmbH& Co. KG, Hager und Meisinger GmbH, M+W Dental, Praxis Dr. Josef Schmid München, Praxis Kieferchirurgie in Dachau, Septodont und VOCO GmbH